Dr. Melanie Franke: Metamorphosis insectorum (DE)

Mit dem belgischen Künstler Jan Fabre verbindet Ursula Goeb die Liebe zur Zeichnung als künstlerisches Ausdrucksmedium, mit dem sich beispielsweise "ein Insekt in einen Himmelskörper verwandeln ließe"; wie die Lieben zur Entomologie, zur Insektenwelt, zur Welt der Käfer. In der Kunst ist dies ein nicht allzu häufig betretenes Terrain, schließlich vermögen die Kerbtiere bei den meisten Unbehagen auszulösen.

Zeichnerisch lässt sich so manches transformieren, verwandeln. Die Eigenwilligkeit der Linie, deren sinnlich-haptische Qualität, vermag einem Kerbtiere, eine sinnliche Präsenz zu geben, indem der empfindsame und offene Linienduktus den Gegebenheiten nachspürt, wie deren Wandlung gebirt. Zusammen mit dem Objekt der Begierde entspinnt sich pure Expressivität.

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Auch in der Insektenwelt geschieht vergleichbares: Larve, Puppe, Schmetterling. Die Wandlung derselben Substanz in ein anderes Wesen. Auf Aristoteles geht die Annahme zurück, dass Insekten "Urzeugungen aus faulendem Schlamm" seien. Wie nun aus diesem ‘Teufelsgetier’ die schönsten Falter und Schmetterlinge schlüpfen konnten, das lag seinerzeit noch im Verborgenen. Der Entomologe Jean-Henri Fabre hingegen betrachtete Insekten in einem größeren Zusammenhang. "Insekten" schrieb er, zeigen "uns das Leben in der unversiegbaren Vielfalt seiner Äußerungen" und helfen uns, "das unter allen dunkelste Buch ein wenig zu entziffern, nämlich jenes über uns selbst." Demnach sind Insekten ein Spiegel der Seele und keineswegs nur Kleinstgetier.

Die Sammlung verschiedener Insekten als Foto, Bild und reales Getier gehört ebenso wie die Beobachtung der Lebensläufe von Schmetterlingen und Raupen zur Passion Ursula Goebs. In ihrem Oeuvre tummeln sich Myriaden von Insekten auf der Zeichenfläche des Papiers. In zarten Linien, mit wilden Strichen oder behutsam gemalten Flächen löst sich Ursula Goeb vom Gegenstand, tastet sich aber immer wieder an die Figur oder das Tier heran. Mal fängt der präzise Blick Kokon oder Insektenbein ein, detailliert bis in die kleinsten Härchen. Mal vermag die zeichnende Hand willfährig Wesen und Bewegung des Getiers zu fassen. Die Formen sind weich und die Farben fließend. Nichts ist statisch, unbeweglich und fest; alles im Prozess. Schwere, dunkle Linien, die sich scheinbar langsam winden treffen auf transparente Flächen und spielen ineinander; Fäden entspinnen einen Kokon. Wenn alles im dunklen Kolorit - braun, grau, schwarz - gehalten ist, treten Geschwindigkeit und Tempo der Linie besonders hervor. Ein Rhythmus aus zarten, fragilen Linien, dicken Strichen, gebrochenen und dichten Flächen entsteht. Abermals lässt sich Jan Fabre an dieser Stelle zitieren, denn ihm zufolge ist ein gutes Kunstwerk, "die richtige Linie am richtigen Platz zur richtigen Zeit." Es bedarf also eine gewissen Übung, jeweils die richtige Position, Geschwindigkeit und Zeit der Linie zu treffen.

Auch verdienen die rauen Oberflächen der Papiere, rissige Kanten und unebene Strukturen Beachtung, denn sie bilden das Grundmuster auf dem die Wesen ihre Form annehmen, zur Insektengestalt werden oder amorph bleiben. Schichtungen von Papieren, transparenten und opaken gehört dazu, bilden die ästhetische Substanz. Neongelbe Karomuster stehen in scharfem Kontrast zu dem sonst schlichten Kolorit, kontrastieren den unbändigen Strich mit ebenmäßiger Ordnung.

Dem visuellen Eindruck nach erinnern die gerissenen und verklebten Papiere (papier collé) Ursula Goebs an netzartige Rissbildungen wie man sie in der craquelure antrifft, stark vergrößert allerdings. Als craquelure bezeichnet man Strukturen, welche sich in dicken Farbschichten durch Alterungsprozesse bilden können. Biomorphe Strukturen können zur Patina werden. Bei Ursula Goeb sind die Strukturen gröber, keineswegs dekorativ.

Vielmehr erkundet sie die Eigenschaften des Materials, setzt es den Charakteristika nach ein: Kohle, Kreide und Wachs werden ebenso erkundet wie die Vielfalt des Papiers. Zerschnittene, zerrissene oder zerknitterte Papiere werden aufgeklebt. Faserknäuel in die mit Acrylfarbe und Wachs bemalten Bilder eingesetzt. Auch die Farbe kommt ins Spiel, wird als transparente Fläche gesetzt, gekleckst oder in dichten Schichten aufgetragen.

Im Schaffensprozess durchlaufen die Materialien also mehrere Stadien der Metamorphose. Denn Ursula Goeb malt aus einem Körpergefühl für Bewegung und Rhythmus heraus, malt ungegenständlich. Ihr geht es nicht um Formen der Nachahmung oder Beschreibung, sondern um Ausdruck von Natur und Kreatürlichkeit: Tiere und Landschaftsformen entstehen aus dem Schwung der Linie, aus dem offenen und empfindsamen Duktus, der die Gegebenheit des Wesens nachspürt. In mehreren Schichten entstehen Verdichtungen und Verwandtschaften: Dinge und Figuren tauchen auf. Nichts in diesen Bildern erscheint unverrückbar oder endgültig, alles bleibt im Fluss, panta rhei. Wie in unscharfen Fotografien, in denen man durch halb geöffnete Augen, glaubt Dinge zu erkennen, entpuppen sich Zeichen als Insektenflügel, Beine und anderes Getier. Sie bleiben vieldeutig, offen, in einem Schwebezustand zwischen eindeutigen Formen und vagen Andeutungen. Die häufig aus Mischtechnik entstandenen Arbeiten von Ursula Goeb lassen sich im Bereich zwischen Abstraktion und Gegenständlichkeit, im Dazwischen, ansiedeln. Linien versus Flächen, Gegenständliches versus Ungegenständliches, Tiefes versus Flaches steigern sich im Nebeneinander, im Dazwischen.

Ursula Goeb findet Vorläufer in der Kunst Fritz Winters , dessen kristalline Grundmuster und organische Strukturen Wachstumsprozesse in der Natur sichtbar zu machen suchten. Der experimentelle Umgang mit Material und Farbe, die Klecksographien Ursula Goebs wurden von den tachistischen Werken Emil Schumachers antizipiert. Auch wenn sich die Künstlerin nicht in direkter Einflusslinie der Künstler befindet - Schuhmacher wie Winter haben nach 45' wesentlich die abstrakte Kunst in Deutschland mitbestimmt - lassen sich eindeutig Parallelen zwischen den Werken ziehen.

Charakteristisch für diese Art von Kunst, aus figürlichen und abstrakten Elementen ist eine prinzipielle Offenheit. Die Bilder werden nicht im konventionellen Sinne "fertig gemalt", sondern halten einen Zustand spannungsvoller, fragiler Schwebe, halten eine Offenheit.

Der Künstler Willi Baumeister hat diese Offenheit einmal als "Entstehen von Wundern" beschrieben. Demnach setzte sich der Künstler zu Beginn des Schaffensprozesses ein Ziel, allerdings mit dem Bewusstsein der Unerreichbarkeit. Das Ziel wird zum Scheinziel, denn im Schaffensprozess schleichen sich unbekannte Kräfte ein, die den Künstler zu einem anderen Resultat als dem vorher anvisierten führen. In Baumeisters Sinne ist diese Abweichung freilich kein Verlust, sondern der erstrebenswerte "Schöpferische Winkel". Das ‘Sich-Hingeben’ an ‘geheimnisvolle Kräfte’, die sich dem rationalistischen Bewusstsein entziehen und sich nur im Schöpfungsakt ausdrücken, basiert auf einem Automatismus, dessen Wurzeln im Surrealismus zu suchen sind. Im automatistischen Verfahren wird der steuernde Einfluss des Künstlers dezimiert, um ‘anderen Kräften’ das Feld zu überlassen. Der Erfinder der écriture automatique, André Breton, formulierte das einmal so: "Die wesentliche Entdeckung ist in der Tat die, dass die Schreibfeder beim Schreiben oder der Bleistift beim Zeichnen ohne jede Absicht dahinläuft und so eine äußerst kostbare Substanz spinnt (...)"

Die geheimen wundersamen Kräfte bewirken bei Ursula Goeb einen Schwebezustand, der in der Betrachtung die Fantasie des Betrachters regelrecht beflügelt. Das scheinbar Unvollendete und Offene regt an, sich in die Formen hinein zu denken, zu fabulieren. Plötzlich entpuppt sich ein Insekt als Himmelkörper, steigt auf in die Sphäre unendlicher Imagination und treibt dort die schönsten Blüten.

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